Proserpina im neuen Kleid

Von Helge Ebbmeier

 

Ein Buch für den Herbst, für ruhige Stunden, fürs Kuscheln auf der Ofenbank mit heißem Tee, Kerzenlicht und - eingeschränkt - romantische Stimmung. Eingeschränkt deshalb, weil das kleine Mädchen sich nicht nur von der üppigen bunten Pflanzenwelt im Garten, sondern auch von Kräuterhexen, vom Dunkel der Nacht, von verborgenen Dingen und Mystik angezogen fühlt, Fieberanfälle hat und von Ängsten, Fantasievorstellungen und seltsamen Visionen gepeinigt wird. Das Mädchen heißt Proserpina, nach der römischen Göttin, der Herrscherin über die Toten und Königin der Unterwelt. Der Kranichsteiner Literaturverlag hat Elisabeth Langgässers gleichnamigen Roman neu aufgelegt. Ein "Sprachkunstwerk von Rang" wie die Malerin Beate Koslowski bemerkt, die den zu der Geschichte passenden Umschlag in der ihr eigenen Art farbenfroh gestaltet hat. Elisabeth Langgässer wurde 1931 für das noch unveröffentlichte Manuskript dieser Kindernovelle mit dem Literaturpreis des Deutschen Staatsbürgerinnen-Verbandes ausgezeichnet. Wer sich darauf einlassen will, in Elisabeth Langgässers blumiger Sprache zu schwelgen, an einem ruhigen Herbstnachmittag bei einer guten Tasse Tee, dem sei diese Erzählung wärmstens empfohlen.  

Elisabeth Langgässer: Proserpina. Kranichsteiner Literaturverlag, Darmstadt 2014 (Erstauflage 1933) ISBN 978-3-929265-17-0, € 12

MATHILDE, November/Dezember 2014 

 

 

Die Fantasie der jungen Lehrerin

"PROSERPINA"  Frühes Langgässer-Werk liegt im Kranichsteiner Literaturverlag wieder vor

Von Johannes Breckner

 

Nach vielen Jahren Pause hat  der Kranichsteiner Literaturverlag wieder ein Buch herausgebracht - und ist mit einer frühen Novelle Elisabeth Langgässers der Tradition treu geblieben, an vergessene Werke mit regionalem Bezug zu erinnern.  

 

Man ist versucht, an Weltflucht zu denken. Als Elisabeth Langgässer ihren ersten erzählenden Prosatext schrieb, war sie mit ihrem Leben als Lehrerin in Griesheim nicht recht zufrieden. Ein Jahr zuvor, 1924, hatte sie mit dem Lyrikband "Der Wendekreis des Lammes" als Schriftstellerin debütiert, jetzt knüpfte sie mit der Novelle "Proserpina" an den antiken Persephone-Mythos an, dessen Motive sie in eine Geschichte aus ihrer rheinhessischen Heimat einflocht - eine Mischung aus Traum und Wirklichkeit, aus feiner Wahrnehmung und Erfindung, die eine besondere Spielart fantastischer Literatur bildet.

Dafür einen Verlag zu finden, war nicht leicht. Erst Jahre später, als Langgässer schon in Berlin lebte, konnte das Werk mit etlichen Umarbeitungen erscheinen. 1949 folgte eine weitere Ausgabe, die auf einer früheren Fassung des Manuskripts basierte. Dieses vergessene Stück Literatur ist wieder greifbar: Der Kranichsteiner Literaturverlag hat nach Jahren der Pause wieder ein Werk mit regionalem Bezug neu herausgebracht, ein höchst verdienstvolles Engagement, zumal  das höchst informative Nachwort erheblich dabei hilft, den Text zu erschließen. Karlheinz Müller, der Vorsitzende der Langgässer-Gesellschaft, benötigt nur wenige Seiten, um die biografischen Zusammenhänge zu skizzieren, die wichtigsten Dokumente zu zitieren und "Proserpina" ins Werk Elisabeth Langgässers einzuordnen.

DARMSTÄDTER ECHO, 29. September 2014 

 

 

Der Kranich soll wieder fliegen

Kathrin Hampf will dem Kranichsteiner Literaturverlag neuen Schwung geben

Von Dr. Jutta Schütz 

 

"Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit" - mit diesem Zitat von Charlotte Wolff und einem Kranich im Flug werden die BesucherInnen der Website des Kranichsteiner Literaturverlags begrüßt. Der kleine Darmstädter Verlag hat die gleichnamige Autobiographie von Charlotte Wolff (1897-1986) herausgebracht. Darin beschreibt die Autorin ihren Werdegang als deutsche Jüdin, Ärztin, Psychologin und Wissenschaftlerin.

Kathrin Hampf mit ihrem Verlagsprogramm. Foto: Jutta Schütz

Der 1992 von Kathrin Hampf, Agnes Schmidt und Heiner Dieckmann gegründete Verlag hat sich auf Reprints, auf Neuausgaben vergriffener Bücher, spezialisiert, „die es wert sind, dass man sie wieder lesen kann“, so Kathrin Hampf. Dahinter stand zunächst der Wunsch „Zarathustras Sippschaft“ anlässlich des 80. Geburtstages der Autorin Ursula Sigismund wieder aufzulegen. Eine ganze Reihe weiterer Titel folgte, darunter auch ein utopischer Roman von Walter Jens: „Nein – die Welt der Angeklagten“, in dem der damals 26-Jährige den Alptraum eines totalitären Staates schildert. Auch eine „neue Reihe“ hat der Verlag herausgebracht, darunter Bücher von Iris Anna Otto und Hilde Möller. Die meisten Titelbilder gestaltete die Künstlerin Beate Koslowski. Für Kathrin Hampf (62), die den Verlag seit einigen Jahren alleine führt, hatte alles mit Lesungen begonnen, die sie ab 1988 zunächst im Café „Chat Noir“ organisierte, das es nicht mehr gibt. Zusammen mit der Autorin Iris Anna Otto lud sie zur Literarischen Nacht auf ihrem romantischen Grundstück in Pfungstadt ein. Für die Lesungen wurde ein Verein gegründet, die Literaturinitiative Darmstadt, und folgerichtig führte der Weg zur Verlagsgründung. Seit zwei Jahren residiert Kathrin Hampf mit ihrem Verlag, ihrer Hündin Lotta und zwei Katzen in einem 200 Jahre alten Häuschen in Bessungen. Dorthin, in die Sandbergstraße 36, lädt sie nun zu Wohnzimmerlesungen ein, denn sie hat „Lust auf Neues“. „Das literarische Wohnzimmer“ ist eine Sonntagsmatinée und sollte am 13. Oktober (nach Redaktionsschluss) mit Fritz Deppert starten, der Texte von Wolfgang Weyrauch las. Kathrin Hampf hat schon bis Mai 2014 monatliche Termine ausgemacht. Sie hofft, dass der kleine, persönliche Rahmen die Möglichkeit zum Gespräch mit dem Publikum eröffnet. Am 17. November wird der Darmstädter Ex-OB Peter Benz aus Georg Hensels „Nachtfahrt“ lesen, am 15. Dezember wird Roland Held „Herein ohne anzuklopfen“ von Ernst Kreuder vorstellen. Charlotte Wolf ist der Termin am 19. Januar 2014 gewidmet.  

MATHILDE, Ausgabe November/Dezember 2013

 

 

Deppert liest Weyrauch

Neue Reihe: Kranichsteiner Literaturverlag lädt ins "Literarische Wohnzimmer" ein

Von Bettina Bergstedt 

 

DARMSTADT. Seit 1992 gibt es den Kranichsteiner Literaturverlag. Die Inhaberin Kathrin Hampf hat überwiegend Bücher herausgegeben, die nur noch antiquarisch zu bekommen waren. Nach fünf Jahren Pause wird sie jetzt wieder aktiv mit einer Lesungsreihe: Am Sonntag liest Fritz Deppert Texte von Wolfgang Weyrauch.

 

In dem Buch "Das war überall" hat Fritz Deppert Prosatexte von Wolfgang Weyrauch zusammengestellt, einem Schriftsteller, den Martin Walser den "Präsens-Mann" nannte, und über dessen Texte Fritz J. Raddatz sagte: "Sie sind unvergessen, sind lesbar, haben sich gehalten auf eine unerwartete und zwingende Weise.". Nun wird der Darmstädter Deppert in gemütlicher Wohnzimmer-Atmosphäre aus diesem Buch lesen und sich an alte Zeiten erinnern: Deppert war mit Weyrauch, der im November 1980 in Darmstadt starb, befreundet. Gemeinsam mit Karl Krolow saßen sie seit 1979 im Lektorat des "Literarischen März", der im Namen der Stadt Darmstadt den Leonce- und Lena-Preis" vergibt.

Die von Deppert zusammengestellten Weyrauch-Texte sind 1998 im Kranichsteiner Literaturverlag erschienen. "Das ist ein idealer Anfang für meine kleine Lesereihe", sagt Kathrin Hampf. Denn in den Wohnräumen ihres neuen Hauses in Darmstadt-Bessungen, das auch den Verlag beherbergt, soll nicht nur vorgetragen werden.

"Ich möchte, dass Fragen gestellt werden können (wenn es sich ergibt) auch während der Lesung, und dass man miteinander ins Gespräch kommt", so Hampf. Jeden Monat wird es nun eine solche Lesung mit Gespräch geben, immer am Sonntagvormittag. Peter Benz liest am 17. November aus "Nachtfahrt" von Georg Hensel, Roland Held aus "Herein ohne anzuklopfen" von Ernst Kreuder am 15. Dezember.

Viele Bücher des Kranichsteiner Literaturverlags haben einen Darmstadt-Bezug, so auch Kasimir Edschmids "Die achatnen Kugeln" oder Elisabeth Langgässers Roman "Gang durch das Ried". Das nächste Projekt ist ein weiterer Roman von Langgässer: "Proserpina". Die Titelbilder der in englischer Broschur gefassten Werke gestaltet fast ausschließlich die Griesheimer Malerin Beate Koslowski.

Kathrin Hampf beschäftigt sich schon seit langer Zeit mit Literatur und organisiert Veranstaltungen. Sie war Gründungsmitglied der Literaturinitiative und hat später, als sie in Pfungstadt lebte, gemeinsam mit der Schriftstellerin Iris Anna Otto einmal im Jahr zu den überaus erfolgreichen "Literarischen Nächten" eingeladen - mit so illusteren Gästen wie Elke Heidenreich und Harry Rowohlt. "Und jetzt habe ich wieder richtig Lust, etwas zu machen!", sagt die Verlegerin.

DARMSTÄDTER ECHO, 11. Oktober 2013

 

 

Pieke Biermann: Gojisch gesehen

Von Michael Wuliger

 

Zeitungen zählen nicht zu den langlebigen Kulturgütern. Gestern gelesen, heute Fisch drin eingewickelt. Das ist Journalismus. Aber manchmal stehen im Blatt ein oder zwei Artikel, die zum Wegwerfen eigentlich zu schade sind, Texte, die man irgendwann gerne einmal wieder lesen würde.

Pieke Biermann zum Beispiel hat von Januar 2001 bis Mai 2003 in dieser Zeitung alle vierzehn Tage ihre Kolumne Gojisch gesehen veröffentlicht, einen nichtjüdischen Blick auf die Absurditäten des jüdischen wie gojischen Alltags, von Pastrami bis Westerwelle. Pieke Biermann ist Schriftstellerin, nicht Journalistin. Darauf legt sie Wert. Ihre Kolumnen waren nicht für die Kategorie "Gedruckt - gelesen - vergessen" gedacht. Nur leider, siehe oben - oder wie der Kölner sagt: "Fott is fott".

Is et nit. Ein kleiner Verlag aus dem südhessischen Darmstadt hat die gesammelten Gojisch gesehen-Kolumnen als Buch herausgegeben. Wer wissen möchte, warum es so viele jüdische Psychotherapeuten gibt, wie Gojim Schabbat halten, und warum nicht nur Behältnisse, sondern auch manche Menschen mit dem Wort "Kulturbeutel" richtig bezeichnet sind, kann das jetzt im handlichen Buchformat statt auf vergilbten Zeitungsblättern wieder lesen - oder, falls er oder sie Neuabonnent ist, auch zum ersten Mal.

JÜDISCHE ALLGEMEINE, 13. Januar 2005

 

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Zum Tod von Ursula Sigismund
Ein Nachruf von Iris Anna Otto
 

„Nein, nicht hundert! Höchstens neunzig!“ - In ihrer schönen, gut lesbaren Handschrift steht die Widmung auf der ersten Seite eines ihrer Bücher, das aufgeklappt vor mir auf dem Tisch liegt. Die 1912 in Danzig geborene Schriftstellerin Ursula Sigismund hat sich recht genau an das selbst gesteckte Ziel gehalten. Im Alter von 91 Jahren ist sie am vergangenen Samstag in der Stadt gestorben, die Heimat ihrer Kindheit und Jugend war – in Weimar.
Dort leitete ihr Vater, ein Vetter Friedrich Nietzsches, 25 Jahre lang – bis 1945 – das Nietzsche-Archiv. Der liebevoll-kritischen Auseinandersetzung mit ihm, der wenige Monate nach Kriegsende von einer russischen Dolmetscherin zu einem Verhör abgeholt wurde und den sie nie wiedersehen sollte, galt auch ihr letztes Buch: „Denken im Zwiespalt“ (LIT Verlag, Münster, 2001). So haben sich die Kreise Ursula Sigismunds geschlossen.
Dazwischen gab es ein Leben in Darmstadt. 1955 flüchtete sie mit ihren fünf Kindern aus dem deutschen Staat, der ihren Ehemann, Volker Sigismund, aus politischen Gründen inhaftiert hatte, in die BRD. Über Hamburg als Zwischenstation gelangte sie nach Südhessen. Hier lebte sie bis zu ihrem 90. Geburtstag im Sommer 2002, hier begann sie, die immer schon „heimlich“ geschrieben hatte, sich als Schriftstellerin ernst zu nehmen und an die Öffentlichkeit zu treten.
Für das Manuskript ihres ersten Romans („Bedrängte Zeit“) erhielt Ursula Sigismund 1963 den mit 20.000 Mark hochdotierten „Deutschen Erzählerpreis“. Und musste trotzdem noch 25 Jahre lang auf seine erstmalige Veröffentlichung warten. Andere Titel erschienen zuvor, so ihr zweiter Roman „Grenzgänger“ (1970), die illustrierte Reiseerzählung „Immer geradeaus, Madame“ (1971), ihr „einziger Bestseller“, wie die Autorin einmal bemerkte, „nämlich heiter!“ Ihm folgten die Kurzgeschichtensammlung „Gepäckaufbewahrung“ (1974, Reprint 2002), der autobiografische Roman „Zarathustras Sippschaft“ (1977, Reprint 1992) und die Lebensgeschichte der Malerin Suzanne Valadon "Montmartre" (1981, Reprint 1997), pünktlich zum achtzigsten Geburtstag schließlich der letzte Roman „Das alte Haus am Hang“ (1992). – Aus allen Büchern, auch und gerade denen mit ernstem Hintergrund, spricht ein feiner Humor, eine leise Ironie: Mittel, Abstand zu schaffen, ohne zu trennen.
Beim Blättern finde ich die Textstelle wieder, die Ursula Sigismund im Kopf hatte, als sie die eingangs erwähnte Widmung schrieb. „Du wirst hundert Jahre alt, sagt mein Mann, weil du dich vor keiner Arbeit drückst. Schauderhaft, antworte ich, ab heute drücke ich mich.“ – Das aber hat Ursula Sigismund in ihrem Leben nie getan.

DARMSTÄDTER ECHO, 19. April 2004

 

Charlotte Wolff: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit. Eine Autobiographie. Mit einem Vorwort von Christa Wolf.

Wie schön, dass es Kathrin Hampf vom Kranichsteiner Literaturverlag gelungen ist, die Autobiographie der 1933 aus Deutschland emigrierten Jüdin, Ärztin und Psychologin erneut herauszugeben, versehen mit einem persönlichen Vorwort von Christa Wolf. In ihren Erinnerungen beschreibt Wolff ihr wechselhaftes Leben in Deutschland, ihre Flucht nach Paris, wo sie mit Künstlern und Intellektuellen wie Dora Maar, Picasso, Man Ray in Kontakt kam und ihr Leben in England, wo sie sich in die Wissenschaft des Handlesens einarbeitete, weil ihr Arzttitel dort nicht anerkannt wurde. Auch die Hände von Virginia Woolf untersuchte sie. Erfrischend, wie offen sie ihre Homosexualität beschreibt, die ihr schon früh bewusst ist. So galten Hose, Hemd und Schlips als Markenzeichen der Autorin der Studie "Psychologie der lesbischen Liebe" und des Romans "Späte Liebe", der bei Frauenoffensive wieder aufgelegt wurde.

Das Lesen der Biographie ist ein Genuss an langen Winterabenden und ein wahres Geschenk an Freundinnen des guten Geschmacks.

gb in WIR FRAUEN 4/2003

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Zur Erinnerung Bier

Das "Gedächtnistrinken" für den vor hundert Jahren geborenen Ernst Kreuder war wie ein Klassentreffen der Darmstädter Kulturszene

Von Johannes Breckner

 

Die letzten Bierflaschen, die Ernst Kreuder geleert hat, waren dick und bauchig. Und man weiß nicht, was er zur modischen Longneck-Flasche gesagt hätte, die am Freitagabend ganz selbstverständlich neben seiner Totenmaske stand. Wahrscheinlich gar nichts, denn es ging ihm um den Inhalt. Zwar gilt die Neigung zum Alkohol gemeinhin nicht als charakterliche Auszeichnung, und bei Gedenkveranstaltungen wird sie in der Regel höflich verschwiegen. Zu Kreuder hätte das nicht gepasst. Er war kein Mann des Drumherumredens. "Gäbe es kein Bier", schrieb er schon 1932 aus München, "hätte ich wohl schon längst etwas angestellt." Und Gabriele Wohmann, die ihn später in Darmstadt kennenlernte, nannte ihn einmal einen "rabiaten Biertrinker".

                                         Es war also durchaus angemessen, dass der  

Kranichsteiner Literaturverlag zum hundertsten Geburtstag des Schriftstellers ein "Gedächtnistrinken" ausrichtete. Kreuder ist vor über dreißig Jahren gestorben, viele seiner Werke, besonders die Kurzgeschichten, sind in Buchform nicht verfügbar. Aber vergessen ist er nicht. Ein großes Publikum drängte sich im Garten des Künstlerhauses Ziegelhütte bei strömendem Regen unter das Dach, um Auszüge aus dem Werk zu hören und diverse biografische Mosaiksteine präsentiert zu bekommen. Evelyn Wendler und Peter J. Hoffmann vom "Kabbaratz"-Kabarett hatten gemeinsam mit Iris Anna Otto eine Lesung vorbereitet, die mit dem Roman "Herein ohne anzuklopfen" begann und sich dann im Wechsel verteilter Rollen in biografische Zeugnisse verästelte, Auszüge aus Briefen etwa, die Kreuders Münchner Zeit schildern. Der Hilfsredakteur beim "Simplicissimus" erlebte staunend das Boheme-Leben, freilich ohne romantische Verklärung, sondern im Zeichen bitterer existenzieller Not. Beiträge zu Kreuders Biografie hatte auch Karlheinz Müller für einen zweiteiligen Vortrag aufgestöbert.

Und während die Kälte sich ausbreitete und das Publikum allmählich vertrieb, wurde das Bild dieses Schriftstellers lebendig. Die ihn nicht gekannt hatten, ahnten etwas von seinem Wesen. Aber es waren auch viele gekommen, die sich durch persönliche Erinnerungen mit Kreuder verbunden fühlen. Und so war das Gedächtnistrinken zugleich eine Art Klassentreffen der früheren Darmstädter Kulturszene. Man zeigte einander Bilder und Briefe, man erinnerte sich an die grüne Tinte, die Kreuder verwendete. Sogar Nana Kovats-Tatum, die Tochter des Bildhauers Georg von Kovats, war aus München angereist, mit einem Beutel voller Erinnerungsstücke im Gepäck.

Kulturamtsleiter Helmut Stütz, der in der Wirtschaft der

Eltern das eine oder andere Bier an Kreuders Tisch getragen hatte, hatte aus der städtischen Kunstsammlung den einzigen Bronzeguss der Totenmaske mitgeschleppt, und da lag er dann auf einem Biertisch, ganz unspektakulär, umgeben von früheren Freunden. Man darf annehmen, dass diese Art des Gedenkens Ernst Kreuder gefallen hätte.

DARMSTÄDTER ECHO, 1. September 2003

 

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Gang der Erinnerungen

Griesheim: Elisabeth Langgässers Buch übers Ried neu aufgelegt

Von Peter Thomas

 

Der "Gang durch das Ried" war Elisabeth Langgässers erster Roman. Zusammen mit anderen, von 1946 bis 1950 entstandenen Erzählwerken der durch die Nationalsozialisten verfolgten Autorin, verschwand das Buch in den vergangenen Jahren aus den Listen der Verlage: "Das unauslöschliche Siegel", Langgässers berühmtestes Buch, war bis vor kurzem das einzige erhältliche Werk der Autorin neben ihren Briefen. Jetzt ist der "Gang durch das Ried" wieder in die Regale der Buchhandlungen zurückgekehrt.

Am Samstag stellte der Kranichsteiner Literaturverlag im Griesheimer Haus Waldeck die Neuauflage des Romans vor, der 1936 bei Hegner in Leipzig zuerst publiziert wurde. Was klingt wie ein Reisebericht, vielleicht angelehnt an Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg", ist ein intensives und kritisches Buch, das die Stimmung der Region zwischen Darmstadt und Rhein um 1930 aufnimmt.

Jean-Marie Aladin, der Protagonist, zieht auf einer Odyssee durch das Ried. Gerade aus der Nervenheilanstalt entlassen, weiß er fast nichts mehr über seine eigene Vergangenheit: Dumpfe Erinnerungen an eine alte Schuld, das vage Ahnen um einen falschen Namen, den er trägt. Langgässer spiegelt in diesem Buch nicht nur das elende Leben der Kleinbauern im Ried wider, der Roman hat auch autobiografische Elemente - 1922 bis 1928 war Langgässer Lehrerin in Griesheim und lernte das Ried aus nächster Nähe kennen.

Die Bedrohung Deutschlands durch die Nationalsozialisten wird im "Gang durch das Ried" wohl nicht explizit benannt, dafür um so eindringlicher in den Szenen assoziiert, die in der von Gräben durchzogenen flachen Landschaft spielen. Dieses Gefühl der vagen Bedrohung gegenüber dem vereinzelten Subjekt des Protagonisten hat Beate Koslowski in ihrem Titelbild umgesetzt, das eine verzweifelte Gestalt im Vordergrund und marschierende Soldaten im Hintergrund zeigt. Eine Ausstellung von Gemälden der Künstlerin begleitete zudem die Vorstellung des Buches. Die Einführung übernahm Langgässers Enkelin Elisabeth Hoffmann, die das lesenswerte Vorwort geschrieben hat.

DARMSTÄDTER ECHO, 28. Januar 2002

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"Schatten umarmen“ von Hilde Möller

Von Heide Germann

 

Liebe in Israel – Der Roman schildert eine schöne und schwierige Begegnung

„Schatten umarmen“ – zwei Worte umfassen das Buch wie selten ein Titel. Sie sind tiefgründig, bildhaft, sehnsüchtig, voller Hoffnung, und doch münden alle Bilder, alles Licht und Leben im Dunkel. Erzählt wird die Geschichte Katharinas, einer jungen Deutschen, die ihre Heimat verlässt, um nach Israel zu gehen und nie wieder zurückzukehren. Vom ersten Augenblick an ist sie fasziniert von diesem Land. Luft, Wärme und Licht, die Kulissen der Landschaft und ihrer Städte, die Gerüche, das Leben – sie saugt es mit allen Sinnen auf. Überall ist uralte Geschichte spürbar; aber auch die jüngste Vergangenheit, die das Verhältnis von Deutschen und Juden überschattet, und die Gegenwart Israels mit ihren Konflikten.

In diesem Umfeld begegnet die Deutsche Katharina der Israelin Lea. Alle gegenseitigen Vorbelastungen, die Verletzlichkeiten, die tiefsitzende Ohnmacht, Brücken über die deutsch-jüdische Vergangenheit hinweg zu bauen, werden überwunden durch ihre Liebe. Sie wächst über Grenzen und Konventionen hinweg, bis der gewaltschwangere israelisch-palästinensische Alltag alles wieder zunichte macht.

Es ist ein sinnliches Buch, geschrieben in einer klaren, knappen Sprache, mit Bildern voller Licht und Schatten. Hinter den Worten steht Unausgesprochenes, tun sich Dimensionen jenseits des Verstandes auf. Hilde Möllers Buch ist die Liebeserklärung an ein Land, die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe, einer gelebten Versöhnung, ist eine hoffnungsvolle Utopie, die die konfliktreiche Vergangenheit und Gegenwart nicht leugnet.

Die Autorin, 1936 geboren, hat 35 Jahre im Ausland gelebt, in verschiedenen Berufen gearbeitet und mit ihrem Mann sieben Kinder heranwachsen lassen, bevor sie 1992 mit Schreiben begann. Ihr erster Roman „. . . den Himmel mit Händen fassen“ erschien 2000 im Alkyon Verlag. Mit dem neuen Roman setzt der Kranichsteiner Literaturverlag seine kleine Reihe der Gegenwartsliteratur fort, die als Pendant der im selben Verlag erscheinenden Reprints Darmstädter Autoren heranwächst.

DARMSTÄDTER ECHO, 3. Juli 2002

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Buchtipp: Peter Jörg Hoffmann "Die Zunge im Mixer"

Von Boris Halva

 

Mysteriös, aufregend und abenteuerlich ist die Geschichte, in die der Darmstädter Kabarettist Peter Jörg Hoffmann die Leser seines gerade erschienenen Buches "Die Zunge im Mixer" verwickelt.

Gerald Mopils, Hauptfigur des in Darmstadt spielenden Romans, macht sich in einer lauen Sommernacht auf den Weg, einen Brief einzuwerfen. Am Briefkasten überrascht er zwei Posträuber und wird von ihnen entführt. Nach einer nächtlichen Odyssee lassen sie ihn an einer Autobahnraststätte stehen. Mopils kehrt mit Umweg über das Polizeirevier nach Hause zurück. Doch niemand glaubt ihm seine Geschichte.

                                                          Hoffmanns tragikomischer Held, der seit Jahren mit

seiner Promotion über Wittgenstein beschäftigt ist und als Pförtner einer Kinderklinik arbeitet, setzt nun alles daran herauszufinden, was hinter diesem Postraub steckt. Was wie ein Krimi beginnt, entwickelt sich allmählich zu einer fesselnden Mischung aus philosophischer Alltagskritik und Persönlichkeitsstudie. Verkappte Künstler, selbstgerechte Wertebewahrer und schmierige Hausmeister werden ebenso bloßgestellt wie das Gebaren der Theaterleute und die Unfähigkeit vieler Menschen, Beziehungen zu pflegen.

Auch Mopils wird von Hoffmann nicht verschont: Immer wieder wird dieser Opfer seiner festgefahrenen Verhaltensmuster: Immer wieder wähnt er sich den anderen überlegen - und bald empfindet der Leser zunehmend Mitleid für ihn. Doch trotz aller Seitenhiebe kommt Hoffmanns Werk nicht aufklärerisch oder gar besserwisserisch daher; er verurteilt nicht, sondern stellt lediglich fest, wobei er den philosophischen und literarischen Anspruch nicht aufbläht. Hoffmann bedient sich einer klaren Sprache in Verbindung mit der Form des Narrenromans.

Geschickt umgeht der Autor Klischees, und die Handlung steuert konsequent auf ein Ende zu, das ebenso überraschend wie beklemmend ist. Wird die Geschichte anfangs noch von scheinbar harmloser Leichtigkeit getragen, so wandelt sich diese aufgrund der Ereignisse in eine düstere Stimmung, die an Albert Camus' "Der Fremde" erinnert. Ähnlich dem Ich-Erzähler bei Camus ist auch Mopils' Handlungsweise folgenschwer und endet tragisch.

Es ist Hoffmann nicht nur gelungen, Darmstadt zur lebendigen Kulisse eines vielschichtigen Romans zu machen, sondern auch den im Grunde einfachen Stoff kunstvoll auszubauen. Hoffmann drängt dem Leser in seinem gleichermaßen klugen und spannenden Buch nichts auf. Seine Freude am Erzählen paart er geschickt mit Lehrreichem und nachdenklich Stimmendem.

DARMSTÄDTER ECHO, 25. August 2001

 

 

 

Tucholsky, wie Zwerenz ihn sieht

Darmstadt: Eine Buchvorstellung als Wiederentdeckung

Von Andrea Duphorn

 

Als Kurt Tucholsky am 21. Dezember 1935 im Exil in Schweden starb, war Gerhard Zwerenz zehn Jahre alt. In einem Keller in Dresden hat der Autor das Werk des großen Satirikers rund 25 Jahre später für sich entdeckt. Der Tucholsky-Satz "Alle Soldaten sind Mörder" hat den gebürtigen Sachsen, der sich 1942 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatte, damals wie ein Keulenschlag getroffen, wie er sagt. "Plötzlich habe ich mich als Mörder gefühlt, obwohl ich nie jemanden getötet habe. Diese Erkenntnis verdanke ich der Klarsicht Tucholskys, der mich seitdem begleitet hat, wo immer ich auch war", berichtete Zwerenz am Sonntagabend bei einer Buchvorstellung im Darmstädter Theater Mollerhaus.

Die Arbeit an seinem 1979 erschienenen Buch "Kurt Tucholsky. Biographie eines guten Deutschen", das der inzwischen 75 Jahre alte Autor sein "großes Tucholsky-Buch" nennt, war "eine der großen Entdeckungsreisen meines Lebens", sagt Zwerenz. Dennoch: Wie die meisten Biografien sei auch die seine von der Literaturforschung überholt worden.

Anders sei es mit seinem zweiten Tucholsky-Buch, das ein Jahr später unter dem Titel "Eine Liebe in Schweden. Roman vom seltsamen Spiel und Tod des Satirikers K. T." erschien. Die neuen Details, die inzwischen über Tucholskys Tod bekannt geworden seien "ändern nichts am erzählenden Text sowie der melancholischen Psychologie der Geschichte und ihrer Personen", zitierte Zwerenz sich selbst aus dem Nachwort des jetzt unter dem Titel "Gute Witwen weinen nicht. Exil. Lieben. Tod. Die letzten Jahre Kurt Tucholskys" in der Reprint-Reihe des Kranichsteiner Literaturverlages neu herausgekommenen Bandes.

Zur Vorstellung dieses Buches hat Zwerenz Fotos mitgebracht, in einer von Tucholsky handgefertigten Briefmappe: Bilder von Zwerenz' Treffen mit Tucholskys letzter Lebensgefährtin Gertrude Meyer, die er 1978 als erster Tucholsky-Biograf rund 40 Jahre nach dessen Tod im schwedischen Hilda aufgesucht hat.

"Ich muss sagen, ich hatte das Buch vergessen", bekennt er den rund 80 Anwesenden - hat aber sichtlich Spaß daran, den 20 Jahre lang vergriffenen Roman wieder neu zu entdecken: Gemeinsam mit seiner Ehefrau Ingrid liest er mehrere Passagen aus dem Band, der sich mit den letzten fünf Lebensjahren Tucholskys beschäftigt, mit dem Zusammenleben mit der jüdischen Freundin, mit den Weigerungen, seine Texte zu veröffentlichen, mit wachsenden finanziellen Problemen und schließlich mit der Todesnacht. Die Ärmel seines Hemdes bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt, die Brille knapp über den Augenbrauen auf der Stirn platziert, lässt Zwerenz den Blick durch den Raum schweifen, während seine Frau liest. Von Zeit zu Zeit huscht dabei ein Lächeln über sein Gesicht. Er scheint intensiv zuzuhören, so intensiv, dass er darüber sogar schon einmal seinen eigenen Leseeinsatz verpasst.

"Als ich Gertrude Meyer 1978 in Hilda besucht habe, kam es mir vor, als ob ich durch die Augen dieser Greisin in die Augen Tucholskys blicke", sagt Zwerenz irgendwann. Bei seiner rund einstündigen Lesung hat er seine Zuhörer an diesem Erlebnis teilhaben lassen.

DARMSTÄDTER ECHO, 4. Oktober 2000 

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Lachende Abgründe

Iris Anna Otto: Salute, Amore, Pesetas. Satiren, Grotesken, Phantasmagorien, Psychedelica

Von Dr. Lieselotte Steinbrügge

 

Manchmal fängt es ganz harmlos an: "Vormittags verließ ich das Krankenhaus, Blinddarmoperation. Keine Komplikationen." Oder, noch besser: "Die Frau kniete im Zimmer und kämmte die Fransen eines Orientteppichs." Aber am Ende hat sich in den 23 Kurzprosatexten, die in diesem Band versammelt sind, jede noch so banale Situation zur Groteske ausgewachsen. Da sterben Krimiautoren den verdienten Hornissentod, weil sie die eigenen Helden nicht rechtzeitig unter die Erde bringen, Ikea-Möbel lauern auf eine falsche Bewegung ihrer Erbauer, alten Frauen kommt auf dem Weg zum Hausbriefkasten die Wohnung abhanden und schließlich werden in Wohngemeinschaften die Signale des toten Freundes aus dem Äther empfangen, den es ausgerechnet bei dem DKP-Fest erwischt hatte. "Salute, Amore, Pesetas" funkt der. Na, wenn das keine Botschaft ist! Selbstverständlich ist überhaupt nichts mehr - nicht einmal die gängigsten Redensarten, denn "schließlich hat noch auf jedes Kind ein Deckel gepasst" und schon Großmutter sagte, "dass man die Made im Speck lassen, die Kirche nicht mit dem Dorf ausschütten soll".

Doch niemand solle denken, hier würde nur reiner Nonsens produziert, obwohl auch das - zum Glück! - geschieht. Iris Anna Otto kann mehr. Sie erzählt trocken, witzig und geistreich Geschichten vom Alltag, der immer ein Tanz auf dem Vulkan, ein Balancieren am Abgrund, ein Spiel mit dem Tode ist. Das Eis erweist sich als hauchdünn, auf dem sich die Figuren bewegen, die ihre Hunde ausführen, Staubsaugerbeutel entleeren, beim Versandhandel bestellen, Zeitungen holen und Wetterkarten angucken.

Darunter schimmert das Elend durch. Die gedemütigte Frau, die gewalttätigen Wohlstandskinder, die schuldgeplagte Schwestermörderin. Die Autorin stellt das fest, sie zeigt uns die Brüchigkeit der Normalität, aber sie erspart uns die hierzulande übliche Zusage an Tiefsinn. Die "Suche nach dem Wesentlichen", so der Titel des kürzesten Textes, ergibt bestenfalls einen Haufen Bauschutt, nachdem mit soviel Mühe die möglichen und tatsächlichen Vorwände hin- und hergerückt worden waren. Statt Metaphysik wird uns eine gehörige Portion an bissigem, bisweilen schwarzem Humor, leiser Ironie und vor allem Witz serviert. Nicht mit Trostworten befreit uns Iris Anna Otto aus den Abgründen, die sie vor uns auftut, sondern mit unserem eigenen Lachen. Das entzündet sich nicht zuletzt an einer brillanten Sprache, die geschliffen wurde an präzisen Beobachtungen und die ungewohnte Bilder hervorbringt, an denen man gerne verweilt. Unterhaltung pur; Texte die jedes Betriebsfest zu retten vermögen.

Die promovierte Religionswissenschaftlerin hat sich schon mit einem Dissertationsthema hervorgetan ("Die Träume der Irokesen"). Auch als Schriftstellerin passt die Autorin in keine Schublade unseres Literaturbetriebes und steht eher einer Dorothy Parker nahe. Es spricht für die gute Spürnase der Darmstädter Verleger, dass sie diesen Geheimtipp weitergeben.

VIRGINIA Frauenbuchkritik, Frühjahr 1996

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Kunststück und Zeitstück

Georg Hensels Erstling

 

Wer Georg Hensels 1994 erschienenes Buch "Glück gehabt" gelesen hat, das monatelang auf den Bestsellerlisten zu finden war, der wusste, daß der langjährige Theaterkritiker als junger Mann einen Roman geschrieben hatte, der ihm vermutlich auch eine Karriere als Schriftsteller beschert haben würde. Doch Hensel entschied sich damals anders: Er ging zur Zeitung, aber auch als Kritiker blieb er ein Erzähler.

Nun ist sein Erstling, der 1949 bei Rowohlt erschien, in einer Neuausgabe des Kranichsteiner Literaturverlags als Nachdruck erschienen. Wie liest man ein solches Buch heute?

Hensel erzählt hier die Geschichte, wie ein deutscher Soldat während des Krieges einen russischen Soldaten gezielt erschossen hat; wie wird er damit fertig? Eine Nachkriegsgeschichte also, eine Szenerie und eine Atmosphäre, die an Borchert erinnern. Realität und phantastisch überhöhte Wirklichkeit. Und der heutige Nachleser hat das Gefühl, einem Kunststück zu begegnen, das sich aber immer wieder auch als reale Geschichte entdeckt. "Nachtfahrt war, ein bisschen pathetisch gesagt, Ende der 40er Jahre für mich ein Befreiungsakt: Ich hatte mir eine Last vom Buckel geschrieben und sie meinen Lesern aufgehängt", schreibt Hensel in einem Nachwort zur Neuausgabe.

Wir, die wir dieses Buch zum ersten Mal lesen, lesen es einerseits mit dem Blick auf den Autor, der uns hier ganz anders erscheint als in seinem Buch "Glück gehabt", und wir lesen es andererseits mit Blick auf eine Zeit, die uns scheinbar schon Jahrhunderte entrückt ist, obwohl sie noch nicht einmal ein halbes Jahrhundert zurückliegt.

"Nachtfahrt" erweist sich dabei eben als Kunststück, als erste Abrechnung mit frühen Kriegserfahrungen und als eine literarische Anzahlung auf Künftiges.

KW in FREIE PRESSE, 17. März 1995

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Angeklagter 56

Von Wolfgang Delseit

 

Walter Jens - heute allseits bekannt als Poeta doctus, brillanter Rhetoriker und Essayist - galt in den 50er Jahren als einer der prononciertesten Vertreter der jungen bundesdeutschen Nachkriegsliteratur. "Nein - Die Welt der Angeklagten"; 1950 erstmals bei Rowohlt erschienen, erlebte als Buch 1954, 1968, 1977 und im Orwell-Jahr Neuauflagen bei verschiedenen Verlagen mit wenigen inhaltlichen Änderungen. Bereits 1950 positiv aufgenommen, in den Folgejahren in zahlreichen Übersetzungen erschienen, als Vorlage für Dramatisierung dienend und eine Preisverleihung legitimierend, bedeutete der Roman den ersten großen, auch  internationalen Erfolg für Walter Jens.

Nun legt der Kranichsteiner Literaturverlag diesen frühen Jens-Roman nach der Ausgabe von 1954 als Taschenbuchausgabe mit einem informativen Vorwort von Gert Heidenreich versehen neu vor.

Jens stellt dem Leser ein totalitäres Weltstaatsgefüge vor, dessen Träger zu einer anonymisierten Drei-Klassen-Gesellschaft (Angeklagte, Zeugen, Richter) verkommen sind. Walter Sturm, der "Angeklagte 56", ein ehemaliger Schriftsteller und Hochschuldozent - der letzte seiner Gruppe - wird Opfer einer perfiden Verschwörung des Systems, das durch den Obersten Richter verkörpert wird. Und hierdurch sind schon die beiden Hauptpersonen des Romans vorgestellt. Bezeichnenderweise hat der eine noch seinen Namen - und damit seine Individualität - verkörpert. Die Welt, in der Walter Sturm lebt, ist eine Welt, die nur noch von einem politischen System diktatorisch regiert wird. Das System ist auf Leistung und Bedürfnisbefriedigung aufgebaut, das einzelne Subjekt hat nach und nach seine individuellen Züge verloren und degeneriert zum konsumorientierten Massenwesen; das pawlowsche Prinzip funktioniert. Die Menschenähnlichkeit  ist nur noch Hülle, die das seelenlose Massenwesen übergestülpt hat. Aber: "Alle sind glücklich", denn die Masse muss nicht denken und alles wird geregelt. Geregelt wird alles durch die Kaste der Richter, über denen gottgleich der Oberste Richter als Diktator residiert. Er ist es, in dessen Händen alle Fäden zusammenlaufen; er ist omnipotent, denn der Spitzelapparat kennt jedes Geheimnis.

In dieser Atmosphäre folgt Sturm der Aufforderung, sich für seine Vergehen - nämlich noch ein Individuum zu sein - dem Gericht zu stellen. Während der verschiedenen Anhörungen, der Konfrontation mit Foltermethoden und der permanenten Fremdbestimmung verstrickt sich Sturm zusehends in das System. Unwillentlich steigt er binnen dreieinhalb Tage vom Angeklagten zum Zeugen und schließlich sogar zum Richter auf. Erst durch den Obersten Richter erfährt er, dass er nicht nur der Letzte, sondern auch ein Auserwählter sei: Während überall auf der Welt die Angeklagten verurteilt und hingerichtet wurden, hatte sich der Oberste Richter die Stadt und die Freunde Sturms bis zum Schluss aufgehoben, um Sturm zu seinem Nachfolger zu machen.

Jens Beschreibungen menschlicher Existenz innerhalb des totalitären Systems fanden ihren bildhaften Ausdruck bereits in Fritz Langs "Metropolis"-Film und die thematischen wie konzeptionellen Bezüge auf Franz Kafka (vgl. Nachwort zur Ausgabe 1968 und 1984) sind eindeutig - Parallelen sind ebenso feststellbar, wie bewusste Durchbrechungen kafkaesker Verhaltensmuster: Während Josef K. traumatisiert durch eine ihm unbekannte und völlig unverständliche Welt taumelt, ist sich Walter Sturm durchaus seines Handelns, Versagens und seiner Schuld bewusst - doch beide sind Opfer und als Individuen dem Untergang geweiht.

Entstanden ist der Roman angesichts des mörderischen Kontrollsystems nationalsozialistischer Terrorherrschaft in Deutschland, das - ähnlich wie die Stasimethoden in der ehemaligen DDR - auf einem funktionierenden Spitzelapparat aufbaute. Wie der "Blockwart" im "Dritten Reich" übt auch der Spitzel in Jens' Utopia die für die Diktatur wichtige Funktion des Privatpolizisten aus, der den Andersdenkenden denunziert.

Die Bilder, die Jens mittels Sprache aufsteigen lässt, sind an der Realität diktatorischer Systeme orientiert, und die von ihm postulierte "Warnung" vor der Wiederkehr des Geschehenen ist zugleich Hoffnung, dass die beschriebene Utopie nie Realität wird, wenn nur genügend Individuen rechtzeitig "Nein" sagen.

DER LITERAT, 7/1993  

 

 

 

  

 

 

 

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